Lore war sechs Jahre alt, als ihre Mutter nach Auschwitz deportiert wurde. Was heißt es, die Tochter einer Frau zu sein, die vom Holocaust gezeichnet ist? Kim Seligsohn, Lores Tochter, ist Sängerin. Die Musik gibt ihrem Schmerz eine Form - und entwickelt eine Wucht und Direktheit, wie sie kein Geschichtswissen vermitteln kann. Ein Film über die Gegenwart der Vergangenheit.
Lore hat ein Leben lang nicht über die Vergangenheit gesprochen. Nicht über das Schicksal der Mutter, nicht über das Versteck, in dem sie mit ihren beiden Brüdern den Holocaust überlebte. Nicht über Tom, ihren Sohn, der sich das Leben nahm. Von morgens bis abends sitzt Lore in ihrer Bremer Wohnung und schreibt. Sie schreibt Artikel aus dem Weser-Kurier ab, auf Karteikarten, diese bedecken den Tisch, die Regale, alles. Sie sind sortiert nach Jahren und Themen. Lore sucht nach Struktur in einer Welt, in der Familie, Religion, ein Zuhause, alles, was im Leben Halt und Sicherheit gibt, in Stücke gehauen wurde. Wenn es dunkel wird, läuft Lore los, allein, durch die Nacht. "DP" - Displaced Person - nannte man die Millionen von Menschen, die der Krieg und das nationalsozialistische Deutschland aus ihrem Leben gerissen und in ein Niemandsland geworfen hatte. Lore Kübler ist eine DP - bis zum heutigen Tag.
Kim Seligsohn hat ihren Glauben, Kim hat ihre Hunde, und Kim hat ihre Musik. Aber ihrem Talent entsprechend an der Hochschule Gesang zu studieren, das hat sie nicht geschafft. Kim sitzt im Zug von Berlin nach Bremen. Auf dem Weg zu Lore, die sie nie Mutter nennen durfte. In ihrer Tasche das gerahmte Bild ihrer Großmutter Marianne. Kim trägt das Trauma ihrer Familie mit sich wie einen zu schweren Rucksack. Aber das Schweigen darüber will sie brechen, will Lore dazu bringen, sich dem Schrecken zu stellen, der als Schatten über Kims Kindheit lag und ihr Leben prägt.
Zersprengte Identitäten, zersprengte Familien. Durch Lore und Kim gelangen wir an eine Dimension der Zerstörung, die bis in unsere Gegenwart reicht. Zu den "Wandersplittern“ unserer Geschichte, wie es der Filmregisseur Thomas Harlan nannte, die weiter verletzen, schwer zu orten sind und zielstrebig in Richtung Herz wandern. "Liebe Angst" (Regie: Sandra Prechtel) begleitet über mehrere Jahre aus großer Nähe den Prozess der Annäherung zwischen Mutter und Tochter. Der Film zeigt, wie ein Trauma in einer Familie weitergegeben wird, sich in die Körper und Seelen der nachfolgenden Generationen einschreibt. Die Anwesenheit der Kamera setzt etwas frei, was viel zu lange unter Verschluss gehalten wurde.
Film von Sandra Prechtel
Erstsendung: 06.11.2024/rbb
Dokumentation Und Reportage wurde auf RBB ausgestrahlt am Mittwoch 6 November 2024, 02:10 Uhr.